Nailsworth in Gloucestershire
Dieser Ort taucht in keinem Reiseführer auf und hat keine bekannten Sehenswürdigkeiten. Eine typische englische Kleinstadt mit rund 6000 Einwohnern. Avebury mit seinen prähistorischen Steinkreisen ist nur 30 Meilen entfernt, gleichweit wie die Städte Bath oder Bristol, das angrenzende Wales oder die Kathedrale von Gloucester (Kulisse für mehrere Szenen der Harry-Potter-Filme).
Die Häuser sind alt und aus Stein, die Parkplätze sind nicht mit der Grösse der Autos mitgewachsen, die breite der Strassen auch nicht. An den Strassenrand fahren, Warnblinker rein, Besorgungen machen. So wie es in England jeden Tag millionenfach passiert. Der Busbahnhof hat einen ausgedünnten Fahrplan, aber es fahren tatsächlich Busse nach Gloucester und Stroud.
Dieses Städtchen in den Stroud Valleys in den Cotswolds ist aber charmant und bietet echtes Leben. Der rote Briefkasten wird noch täglich geleert, die zwei Barber-Shops finden Kunden, die drei italienischen Pizzerias ebenfalls. Die Damen treffen sich am Nachmittag zum Tee, bei schönem Wetter wie heute sogar draussen. Es gibt noch viele kleine Läden, von Tante Emma bis zur Töpferei, auch der öffentliche Waschsalon gehört dazu. Im Mittelalter war die Wollindustrie zentral. Textil-Mühlen nutzten das Wasser der lokalen Bäche, seit dem 15./16. Jahrhundert existieren mehrere Mühlen.
Es gibt hier auch noch ein Railroad-Hotel, aber keinen Bahnhof mehr. Die Eisenbahnverbindungen der Stonehouse & Nailsworth Railway, die von 1867 bis Mitte des 20. Jh. Personenverkehr hatte, wurden vor längerer Zeit eingestellt, die Schienen abgebaut.
Es ist irgendwie Idylle pur, auch wenn sich um den zentralen kleinen Kreisel im Stadtzentrum dauernd Autos, Lieferwagen und Lastwagen quälen. Anita und ich schlendern durchs Städtchen, quetschen uns durch enge Fussgängerwege, schauen durch viele Schaufenster, besichtigen die Kirche und das obligatorische Soldatendenkmal, wo alle Einheimischen aufgelistet sind, die im 2. Weltkrieg getötet wurden. Die Überquerung der Strassen gestalten sich etwas Tricky: nur nicht auf die falsche Seite schauen, denn die Fahrzeuge kommen von der anderen Seite, und zwar immer ziemlich schnell! Linksverkehr ist schwieriger, wenn man zu Fuss unterwegs ist, wie wenn man selber fährt. Dafür schaltet die Fussgängerampel schnell: kurz drücken, 10 Sekunden später stehen die Autos auf rot, der pfeifende Signalton zeigt an, die Füssgänger dürfen rüber.
Nailsworth und das nebenanliegende Stroud haben eine Tradition der „nonconformity“ (also abweichende Meinungen zu fast allem), der Begriff «stroudy» wird im englischen ungefähr so definiert: «Impliziert authentisch, kreativ, naturverbunden und leicht alternativ, in Anlehnung an die Atmosphäre der Stadt und des Stroud Valleys.» Da passen wir mit unserem Knutschi doch ziemlich gut hierhin, oder?
Nach unserem längeren Spaziergang und dem Einkauf in Morrison warten wir nun aber, bis Ella von ihrer Schule heimkommt und dann ihre Tante Anita so richtig geniessen kann (und umgekehrt).
Und zum Schluss habe ich etwas gefunden, warum es Nailsworth doch noch in einen Reiseführer schaffen könnte: hier gibt es die meisten noch funktionierenden Wasserräder pro Quadratmeile in England! Es gibt eine Mill Trail (Mühlwanderweg) und historische Mühlen wie Egypt Mill und Ruskin Mill.